Bordbuch-Eintrag: Ankunft im Sharyn Canyon 4.8.2012, Kilometerstand 9204, 87. Reisetag. Wetter 30 Grad, die Sonne brennt.
Bevor wir die Stadt Almaty Richtung Osten verlassen, schlagen wir nochmal richtig zu und laden insgesamt eine halbe Tonne diverser notwendiger Dinge in unser Auto: 265 Liter Treibstoff, 200 Liter Wasser, 22 Liter Bier und 10 Kilo Essen. So etwas hat unter anderen Umständen schon einen ganzen Tag gedauert, in Almaty schaffen wir das in drei Stunden, inklusive Geldautomat und Handyguthaben aufladen.
Auf dem Weg zu Fuß zum Geldautomaten hupt es mehrfach neben mir. Da dieses Geräusch in Almaty zur ständigen Hintergrundbeschallung gehört, ignoriere ich es einfach. Doch es sind die Bullen, die mich kontrollieren wollen. Extrem unfreundlich und nun auch noch verärgert, dass ich nicht stehengeblieben bin, lassen sie ihren Frust ab. Ich muss die Taschen leeren, meine Papiere werden kontrolliert, und immer wieder fragen sie wo ich hier wohne. Dann soll ich ins Auto einsteigen, doch das lehne ich dankend ab. Sie wollen sich ein bisschen Geld dazuverdienen, ich soll Strafe zahlen, weil ich nicht stehengeblieben bin. Dazu sage ich nur, wir rufen jetzt die deutsche Botschaft an, damit die mir erklären, was ich falsch gemacht habe. Das Telefon habe ich schon in der Hand, auch wenn ich die Nummer gar nicht kenne. “Nein, nicht nötig, alles ok”, nun darf ich weiter gehen. Was für Drecksäcke, nichts wie raus aus der Stadt. Ich will wieder Verkehrskontrollen auf dem Land mit “Bitte Papiere! Was, Tourist?, Germania? – dann gute Fahrt!”.
Die ersten 100 km hinter Almaty fahren wir durch grüne bewässerte Landschaft, das Angebot an frischem Obst und Gemüse am Straßenrand war auf unserer Reise noch nie so groß wie hier. In jeder Siedlung sieht man die Stände unter den schattigen Pappeln, teilweise erstrecken sie sich über mehrere hundert Meter.
Irgendwann wird auch der Straßenzustand wieder dem ähnlicher, was wir eigentlich von Kasachstan gewohnt waren. Es gibt zwar noch keine Schlaglöcher, aber der Gran Hermano springt wieder wie ein Känguruh über die Wellen. Plötzlich sind wir dann in den Bergen, die Erde ist rot geworden, und nach einem Anstieg durch eine Schlucht sind wir auf einer Hochebene im wilden Westen, mitten in der Prärie. Außer Grasland, ein paar Pferden und den Bergketten am Horizont sieht man nicht viel. Sind wir nun anstatt 5.000 Kilometer Luftlinie östlich von zu Hause zu sein vielleicht an einen Ort 8.000 km westlich gebeamt worden? Man könnte es glauben.
So geht es durch die Prärie dann zu unserem Ziel, dem Sharyn Canyon. Canyons sind mathematisch gesehen quasi der Kehrwert eines Gebirges: Die Gipfel zeigen nach unten. Es wird wärmer statt kälter, wenn man sie erreicht. Man hat keine Aussicht. Und: Man sieht sie nicht aus der Ferne. Wir stehen schon an der Schranke zum Sharyn Nationalpark, wo die Park- Ranger aus Begeisterung für unser Auto den Daumen heben, aber außer Prärie und Bergketten sehen wir noch nichts, gerade einmal erahnen wir ein paar Furchen im Boden. Doch nur drei Kilometer später stehen wir neben 10 Autos auf einem Parkplatz direkt am Abgrund und schauen 350 Meter senkrecht in die Tiefe auf den Fluss, der sich über Millionen Jahre so tief eingegraben hat. Dieser Canyon wird gerne mit dem Grand Canyon verglichen, und ich muss sagen, landschaftlich stimmt es sogar. Wenn er auch nicht so tief ist, die steilen roten Klippen und die verwinkelten Seiten- Canyons erinnern mich an meinen Grand- Canyon Besuch 1987 mit meiner guten alten XT 500. Auch hier ist (wie schon in den Tian- Shan Bergen im Vergleich zu den Alpen) ein großer Unterschied wieder, dass man fast allein ist in dieser phantastischen Landschaft, während am Grand Canyon Hunderte bis Tausende herumlaufen. Die wenigen Tagesausflügler hier fahren die 3 km bis zum Aussichtspunkt, gehen zum Fluss herunter und verschwinden dann wieder.
Hinter der Nationalparkschranke zweigt noch ein Weg parallel zum Rand des Canyons ab. Der Canyon ist ca. 150 km lang, doch schon diese Abzweigung befährt niemand mehr. Dort muss es doch für uns einen grandiosen Stellplatz in der Einsamkeit geben, natürlich direkt auf der Klippe, mit Blick in dir Schlucht. Und genauso ist es auch: Nach nur 5 Kilometern führen ein paar verwitterte Reifenspuren an den Rand, und fünf Minuten später stehen wir auf einer Landzunge, die Hecktür 10 Meter vom Abgrund entfernt. Das ist nun die Belohnung für die Mühen der Durchquerung West- und Zentralkasachstans: Nachdem sich wochenlang die Landschaft gar nicht änderte, ist sie nun abwechslungsreicher als je zuvor.
Dies wird unser Standplatz für einige Tage sein. Am ersten Tag sind wir so beeindruckt, dass wir den ganzen Nachmittag auf der Klippe sitzen und nur dem Wechsel der Farben und Schatten unter uns zuschauen. Es ist so still, dass schon das vereinzelte Summen eines Insekts als Krach empfunden wird. Der Sonnenuntergang ist hell und gleißend, die Canyon- Wände leuchten dazu dunkelrot. Wenig später im Mondlicht sieht dann wieder alles ganz anders aus.
Sich in dieser Landschaft zu Fuß zu bewegen macht süchtig: Hinter jeder Klippe ein neuer Ausblick, sowie eine neue Klippe dahinter inklusive. Also auf die nächste Klippe, wieder ein überwältigender Ausblick und eine neue Klippe. Und so geht es immer weiter, irgendwann ist unser Gran Hermano nur noch ein Punkt in der Ferne. Der Versuch, durch die kleinen Seitencanyons zum Fluss zu gelangen, scheitert meist an einem Abgrund, den man von unten nicht sieht. Trotzdem ist es faszinierend, sich in dieses Labyrinth zu begeben. Wir sehen immer wieder abgestürzte Klippen und riesige Felstrümmer, die wie kleine Murmeln ins Tal gestürzt sind und die Wege und trockenen Flussbetten verstopfen. Keine Frage, die Landschaft ist in ständigem Wandel. Viele Klippen haben deutliche Risse und Sollbruchstellen. Irgendwann werden sie abstürzen. Ob heute oder in dreitausend Jahren, kann ich nicht sagen, aber geologisch gesehen ist das ja fast nichts.